Manifest eines freien Radikals – Christian Hund

Ich bin ein freies Radikal, weil ich Dinge gern frei entscheide und mein Leben nicht ohne weiteres entlang üblicher Normen oder Regeln der Gesellschaft in der ich lebe, ausrichte. Das bedeutet zwar nicht, dass ich grundsätzlich vorhandene Werte ablehne, jedoch durchaus, dass ich eine Abweichung immer in erster Näherung als etwas Positives sehe: Dadurch, dass ich mich auf unbekanntes Terrain bewege, kann ich einen Aspekt meines Lebens neu und selbst erleben und dabei für mich ordnen. Man könnte dies als den fortwährenden Protest der Jugend über sich als etabliert darstellende Regeln sehen, den ich in mein erwachsenes Leben mitgenommen habe, ohne dabei pubertär zu wirken.

  1. Eine Partnerschaft ist nicht zentraler Sinn des Lebens. Wohl sehnt sich der Mensch nach Nähe und einer Person, die diese spendet. Jedoch führt das unterbewusste oder gar bewusste Anstreben eines solchen vermeintlich stabilen Zustandes nur zu der Gefahr, diesen Zustand gewollt anzustreben und damit an jede Partnerschaft schon von Beginn an hohe Erwartungshaltungen zu stellen, die ein neuer Partner von sich aus nie erfüllen kann.
  2. Die monogame Paarbeziehung kann nur als ein Konstrukt angesehen werden, das genau aus diesen Wünschen resultiert. Stabilität wird vermeintlich nur erreicht, wenn der Partner idealerweise ein Leben lang derselbe bleibt. Dabei wird übersehen, dass die Wahrscheinlichkeit, alle nötigen Bedürfnisse, die ein Mensch zum Überleben von seinem Umfeld benötigt, genau von einer Person geliefert werden, nur sehr gering sein kann.
  3. Ein typisches Set an Bedürfnissen mag in etwa aus folgenden Komponenten bestehen: Das Vorhandensein eines anderen Menschen mit tiefem Grundverständnis und Interesse an Erlebnissen der Person, eines weiteren Menschen, der gleiche Ausprägungen sexueller Interessen mitbringt und in der Lage ist, die Person ohne Probleme sexuell zu befriedigen, eines nächsten Menschen, der berufliche oder kreative Ziele teilt und mit der Person gemeinsam an Projekten arbeitet und eines Menschen, der die Person räumlich (zum Beispiel als Mitbewohner) begleitet. Zu diesen Bedürfnissen können noch eine Reihe weiterer dazu kommen, etwa ein Mensch mit überschneidenden Interessen bei der Urlaubsplanung, einer Unternehmensgründung oder weiteren Themen bzw. Lebensbereichen, die eine Person ausmachen. Wieder zeigt sich: Alle oder viele dieser Komponenten gleich zu Beginn einer Partnerschaft als zugehörig zu dieser zu erwarten, kann den anderen Menschen wiederum nur überfordern.
  4. Die Bedürfnisse oder Interessen können und mü ssen also, um für einen Menschen ein stabiles Lebensgleichgewicht zu erreichen, auf mehrere Partner je nach Bereich verteilt werden. So ist sichergestellt, dass jedes Gegenüber, das in einem spezifischen Bereich die Rolle des Partners übernimmt, das geben kann, was ihm wiederum am besten liegt. Da in diesem Modell der Exklusivitätsanspruch fällt, braucht auch nicht unbedingt in jedem der relevanten Bereiche nur ein Partner auftauchen. Es kann zwei Personen geben, die einem Menschen vollständiges Interesse an seinem Leben entgegenbringen, aber je ganz unterschiedliche Facetten der Person besonders gut verstehen. Auf gleiche Art und Weise können auch mehrere Personen verschiedene Facetten der Sexualität eines Menschen befriedigen.
  5. Ohne exklusive Bindungen wird vermieden, dass eine Person derart über einen anderen Menschen bestimmt, dass dieser sich unterordnen muss. In einer klassischen Paarbeziehung wird in der Regel sich immer einer der beiden Partner dem anderen über- oder unterordnen. Bei der Verteilung der Bedürfnisse auf mehrere andere Person mag es mal zu Über, mal zu Unterordnungen kommen, jedoch ist das Machtgefüge tendenziell ausgeglichen.
  6. Zentrales Motiv derartiger Beziehungen ist Loyalität: Jeder der Partner muss sich in dem jeweiligen Bereich 100 Prozent darauf verlassen können, sich in verbindliche Art und Weise auf den Menschen einzulassen. Jede deutliche Abweichung im Verhalten führt zu Spannungen wie in einer klassischen Beziehung.
  7. Dieses Partnerschaftsmodell schließt in seiner Grundform Kinder zunächst einmal recht weitgehend aus. Kinder gehören in unserer Gesellschaft zu einem Beziehungs- und Lebensziel, das oftmals ganz selbstverständlich gesetzt ist. Kinder sind vermutlich das schönste Projekt, das man im Leben haben kann. Jedoch sind sie nicht das einzige Projekt, welches es einem Menschen ermöglicht, alles was er gelernt hat und wovon er überzeugt ist, weiterzugeben.
  8. Es ist zu beachten, dass dieses Modell natürlich nicht frei von Dynamiken ist. Genau wie in einer klassischen Beziehung kann es zu Veränderungen und Verschiebungen kommen. Es ist überhaupt nicht undenkbar, dass im Laufe der Zeit mehr und mehr Aspekte und Bereiche dann doch wieder in einer Person zusammenkommen. Das ist jedoch keineswegs grundsätzlich zu erwarten und kann eigentlich erst nach vielen Jahren des Sich-Kennens und Ausprobieren gelingen. Genauso wenig spricht jedoch gegen eine stärkere Auftrennung unterschiedlicher Bedürfnisbereiche auf mehr und mehr Personen im Laufe des Lebens.

02.10.11