Great Expectations

1 Tag, 24 Stunden, 1440 Minuten, 86400 Sekunden.

Wie auch immer man Zeit angeben will, sie ist für uns alle gleichlang. Was sich unterscheidet, sind unsere Gewohnheiten, individuelle Bedürfnisse, Lebenswege, und Prioritäten.
Vor ein paar Wochen wurde ich mit dem Konzept konfrontiert, dass ‚keine-Zeit-haben‘ eigentlich Quatsch ist. Denn, es haben ja alle die gleichen 1440 Minuten am Tag. Es ist doch eher so, dass wir individuell unterschiedliche Prioritäten setzen und daher unsere Zeit anders nutzen möchten. Eine Aussage wie: „Ich hab keine Zeit für dich“, heißt also eigentlich eher: „Ich habe andere Prioritäten als dich“.
Das mag sich nicht immer toll anfühlen. Aber wenn man mal ein wenig in sich geht, ist es gut nachvollziehbar. Es gibt Situationen, da ist man schlichtweg nicht wichtig für andere. Und das ist auch gut so! Es ist doch irgendwie schlimm, wenn jemand einen seltenen Besuch von Person A nicht wahrnehmen würde, weil ein viertes Treffen in der selben Woche mit Person B sonst flachfallen würde. Oder die wöchentliche Zeit-für-mich (Sport, Meditation, Schreiben, Hobbies, etc.) immer wieder ausfallen müsste, weil Andere mehr Priorität haben. Was wenn man seine Familie oft sehen möchte, oder auch mal nicht. Ist das egoistisch? Oder gutes Management? Unser ganzes Leben besteht aus Entscheidungen: was ziehe ich an, was esse ich, wohin gehe ich, wann stehe ich auf, wie oft dusche ich am Tag, mit wem rede ich, was kaufe ich ein (und löse mit diesen Entscheidungen wahnsinnig viele andere Prozesse aus), welche Transportmittel nutze ich (ich will nun ganz sicher nicht noch von diesen globalen Folgen anfangen). Entscheidungen, Entscheidungen, Entscheidungen. Und wir sind mitten drin und setzen Prioritäten.
Oftmals werden Entscheidungen als Streß empfunden. Und ich weiß nicht, ob es am Zeitgeist liegt, oder an meinem Alter, meinen Erfahrungen bisher im Leben oder der Digitalisierung. Oftmals werden Entscheidungen mit Erwartungen gekoppelt und ab da wird es sozial vertrackt. Wären Erwartungen nicht Teil der Gleichung, so wären Entscheidungen ein ziemlich rationales Geschäft. Ein nüchternes Pro und Kontra. Eine Liste, die wohl die meisten Menschen schon mal gemacht haben. Und Teil diese Liste ist in den meisten Fällen die Befindlichkeit der anderen Menschen. Also die Erwartungen, die andere von uns haben.
Bei den hunderten von Entscheidungen jeden Tag beziehen wir unsere Mitmenschen mit ein, mal mehr, mal weniger. Und ab hier wird es richtig chaotisch. Jede an der Situation beteiligte Person hat Erwartungen und handelt so, dass es den bestmöglichen Outcome für sich selbst gibt (je nach Priorität der Situation für das Individuum). Gehen wir mal von einer demokratischen Gesellschaft aus, sodass Kompromiss durchaus die ideale Lösung sein kann. Aber Zeit ist kompromisslos manchmal. Aufmerksamkeit auch.

Ich habe neulich bei Tinder einen Mann kennengelernt und die ersten Nachrichten waren nett und unkompliziert. Da mich die Rhetorik der ersten Nachrichten meist eher langweilt (es ist ja doch immer der gleiche smalltalk, denn es zu überwinden gilt, um richtig ins Gespräch zu kommen. Man kennt sich schließlich überhaupt nicht.), hatte ich schnell ein Treffen vorgeschlagen. Diese Entscheidung (!) habe ich getroffen, da der Nutzen, ganz rational betrachtet, bei einem Treffen größer ist. Denn auch wenn das Schreiben vorher nett ist, kann es sein, dass man sich gegenübersteht und einfach nur NEIN denkt.
Folgende Entscheidungen sind bis zum ersten Treffen mindestens gefällt worden:
* wischt mein Finger nach links oder nach rechts
* schaue ich mir das Profil in Ruhe an, bevor ich wische, oder wische ich einfach.
* Oh, ein Match! Suche ich weiter oder schreibe ich dem Menschen direkt?
* Schreibe ich zuerst? Oder warte ich? Aber wie lange?
* Gesetzt ich schreibe zuerst: Gebe ich mir Mühe? Benutze ich Standardphrasen, die mich nicht weit bringen, aber den Anfang machen für etwas, was vermutlich nicht sehr fruchtbar sein wird, weil ich mir nicht mal die Mühe mache, etwas individuelles zu schreiben?
* Kriege ich eine Antwort von Person B?
* Halte ich das Gespräch aktiv am Laufen? Stelle Fragen? Bin aufmerksam?
* Initiiere ich ein Treffen?
* An welchem Wochentag? Lasse ich etwas anderen dafür ausfallen (Priorität!)?
* Um welche Uhrzeit? (abends kann suggestiv sein, morgens aber auch, wie lange plane ich ein?)
* Was für eine Aktivität plant man? Essen? Trinken? Spazieren gehen? Draußen, drinnen? Alkohol? Tee? Kaffee? Frühstück? Kino? Theater? Museum?
* usw.

Es ist erschreckend und ernüchternd, dass wir so viele Entscheidungen treffen und mittlerweile mit einem gewissen Kalkül, vor allem im Kontext Dating. Aber irgendwie liegt es auch in der Natur der Sache, bzw. den Wegen, die wir heute nutzen, um jemanden kennenzulernen.
Einerseits leben wir in einer Gesellschaft, in der Effizienz und Rationalität als etwas erstrebenswertes gilt. Multitasking, immer überall dabeisein (Prioritäten!), alles mitbekommen und immer erreichbar sein. Und gleichzeitig wird uns eine romantische Idee verkauft. Nämlich, dass trotz all dieser rationalen, zumeist digitalen Entscheidungen am Ende eine Emotion steht. Und zwar für beide. Möglichst die selbe.
In diesem Prozess muss erst einmal das Produkt getestet werden. Vor einem persönlichen Treffen ist man Selbstmarketing ausgesetzt. Jede und jeder verkauft sich so gut es möglich ist. Je nach Priorität. Und diese Phrasen und Floskeln lassen sich erst hinterfragen und wirklich verstehen, wenn man sich erlebt. Im echten Leben. Und dazu kommen nun die Erwartungen, die sich aus den Prioritäten der Vorentscheidungen ergeben. Hoch Komplex. Irgendwie faszinierend, dass sich all das in ein fester Format zwängen lässt und ergibt, dass sich Menschen tatsächlich treffen.
So kam es nun, dass ich mich mit Person D traf. Ein gemeinsamer Spaziergang an einem belebten Ort, unter der Woche, abends (Sicherheit durch andere Menschen; ‚freien‘ Abend hergegeben; frühes Ende, da Arbeit am nächsten Tag). Das Treffen verlief sympathisch und nett, was Humor angeht, mussten wir uns ein wenig aneinander herantasten, aber am Ende des Treffens stand eine weitere Verabredung.
Während des ersten Treffens bereits sagte ich Person D, dass ich oftmals länger brauche, um auf Nachrichten zu antworten. Das sei nichts Persönliches, einfach eine Tatsache. Es ginge auch nicht um tagelang Funkstille, aber manchmal dauert es einfach, bis ich mir die Zeit nehmen kann und will. Ich mag nicht (oder habe die Entscheidung getroffen) dauernd auf mein Telefon schauen, ich möchte mich auch gern auf Menschen konzentrieren, wenn ich sie sehe. Er würde es ja sicherlich auch als unhöflich empfinden, wenn ich während des Spaziergangs Nachrichten an andere Menschen geschrieben hätte.

Alles kein Problem. Bis nach dem zweiten Treffen (am Wochenende!, mehr Zeit!, heilige Freizeit!).
Während des zweiten Treffens fragte mich Person D, ob ich Lust hätte, am folgenden Wochenende einen Tag ans Meer zu fahren mit ihm. Nach zwei Treffen, die schön aber (für mich) nicht aussagekräftig genug waren, um eine Entscheidung für ein solches zeitliches Engagement zu treffen, eine große Frage. Ich sagte, ich würde es mir überlegen  und im laufe der Woche Bescheid geben.
Am nächsten Tag (Montag) schrieben wir kurz, jedoch nicht zum Thema Meer. Am Dienstag hatte ich Besuch (Prioritäten) und ließ mein Handy ungeachtet im Regal liegen. Wie konnte ich nur. Als ich mir am nächsten Tag die Rage-Nachrichten von Person D durchlas, war ich fassungslos. Er warf mir tatsächlich vor, ich würde mir ja nicht mal die 30 Sekunden nehmen, ihm zu Antworten und zwei Tage auf eine Antwort für den Meer-Tag zu brauchen, sei eine klare Aussage von mir.
War es auch. Ich hatte andere Prioritäten. Ich habe in der Zeit Menschen gesehen, die mir bereits wichtig sind (was er ja potenziell hätte erreichen können, aber nicht nach zwei Treffen und einer etwas überdimensionierten Planung, gemeinsam ans Meer zu fahren). Ich habe nicht neben meinem Handy gesessen und auf Nachrichten von ihm gewartet. Wie kann ich denn auch jemandem, der nichtmal weiß, wie ich mit Nachnamen heiße, die gleiche Priorität geben, wie Personen, die mir bereits wichtig sind.

Seine Erwartung war eine Andere. Er wollte bedingungslose Aufmerksamkeit ab der ersten Nachricht. Und wenn es sich für mich richtig angefühlt hätte, wäre das vielleicht sogar passiert.

Meine Erwartung war: wenn es gut läuft, dann wird sich meine Priorisierung verschieben. Den Kontakt wachsen lassen und sich langsam einen Weg in mein Leben bahnen lassen. Er wollte alles oder nichts ab der ersten Entscheidung.
So ist man halt verschieden und geht nun wieder getrennte Wege.

Groll ihm gegenüber empfinde ich nicht, da haben andere Menschen und Dinge gerade eine höhere Priorität.