Der Zauberer

Wir haben heute gefühlt 2 Millisekunden Zeit, jemanden von uns zu überzeugen. Viel länger dauert es nicht, ein Bild anzuschauen und sich zu entscheiden, zu welcher Seite man wischt. Lieber einmal zu viel gewischt, als aus versehen Kontakt aufzunehmen. So ist unsere Partnersuche heute gestrickt. Photoshop und krampfige Körperhaltungen.

Ich entschied mich gegen ein gestelltes Bild und für einen Fantasy-Dämon. Die inneren Werte zählen schließlich. Auch beim Online-Dating.

Wer aber ist mutig genug, sich darauf einzulassen?

Wie sich herausstellen sollte: Zauberer.

Der Erstkontakt im Chat verlief gut bis nerdig. Ein kurzer Austausch der Befindlichkeiten, ein kurzes Abchecken des Berufslebens, eine schnelle Entscheidung für ein Bier im Pub. Eine anschließende Diskussion über das Reisen zwischen Paralleluniversen sicherte einen gemeinsamen Grad an Individualität. Vielversprechend also, einen angenehmen Abend zu erleben.

Lief also.
Vor allem die Schweißperlen auf seiner Stirn, als er 5 Minuten zu spät mit dem Fahrrad vor dem Pub ankam.
Da er nicht wusste, wie ich aussehe (ein waschechtes semi-Blind-Date also) schlenderte ich auf ihn zu, um ihm Zeit zur Fahrradsicherung zu geben.
Er verbrachte unnatürlich lange mit seinem Fahrradschloß und ich konnte den ersten Blickkontakt und die sperrige Fahrrad-Schloss-Situation nicht mehr voneinander trennen.
Wie gern hätte ich ihm diesen Gefallen getan. Doch da lag der Schlüsselbund auch schon auf dem Boden – verlegene Blicke, seltsame Körperhaltungen (wie seltsam sich Körper um Fahrrad winden können…), und versucht-lässige Worte. Gefolgt von einem umständlichen Aufheben des Schlüssels.

Aus meiner anfänglichen, nervösen Aufregung wurde tiefe, fast schon meditative Ruhe.
Die Art von Ruhe, die man bekommt, wenn man in einer Prüfung sitzt und merkt, dass man es mehr drauf hat als der Prüfende (eine ewig-unerfüllte Traumvorstellung von mir).
Ich lehnte mich innerlich zurück. Atmete tief durch.
Welch Luxus, sich einfach mal fallen zu lassen, zu beobachten, ohne die eigene Wahrnehmung durch Adrenalin zu verfälschen. Herrlich.

Wir betraten den Pub nach einer schwitzigen Umarmung und einer halbherzigen Entschuldigung für sein Zuspätkommen. Na, immerhin hatte er es gemerkt.
Er zog unschlüssige Blicke durch den sehr leeren Raum, geradezu hilflos suchend nach einem Platz der passend war (es waren etwa 8 andere Menschen anwesend, inklusive Personal). Er dreht sich um, und bat mich, einen Platz zu wählen.
Es sollte nicht das letzte Mal sein, dass an diesem Abend die Macht der Entscheidung auf diese Art auf mich übertragen wurde. Es fühlte sich so gar nicht nach einem gleichberechtigten, respektvollen Einbeziehen meiner Meinung an; es schwang eher eine subtile Hilflosigkeit mit. Meine offenbar verunsichernde Ruhe half ihm auch nicht gerade. Und ich sah wohl besser aus, als er erwartet hatte.
Ich entschied mich also für Tisch und Sitzplatz und wir bestellten unsere Biere, nachdem er unnatürlich lange in die Karte geschaut hatte. Verlegenheit. Panik. Ohnmacht. Alles war von seiner Seite ab hier möglich.

Gespannt beobachtete ich, wie er langsam runterkam und zu erzählen begann. Interessiert gab ich die gute Zuhörerin und wurde mit mittelmäßig Alltäglichkeiten belohnt. Nach etwa 5 Minuten engagiertem Monolog wurde mir klar, dass meine vornehme verbale Zurückhaltung anscheinend sehr motivierend wirkte.
Offenbar war ich nicht mehr ganz die unnahbare Eiskönigin für ihn, und war nun mit seiner sehr hohen Wortfrequenz in Schach zu halten. Und was ich nicht alles erfahren durfte in diesen ersten 90 Minuten Ansprache:
Kindheitserinnerungen, Familiendramen, Kollegenstories, das volle Programm. Inklusive Aussage wie: „Also mein Vater ist verstorben, das’ aber auch besser so. Mal ehrlich.“. Diese Aussage ist nicht nur ohne Kontext gruselig, sondern lässt auch rein mental tief blicken.
Ich bin kein Fan von Smalltalk, aber Seelenstriptease innerhalb der ersten 15 Minuten?
Nein, danke.
In einer Atempause, in der er sich einen Schluck Bier gönnte (kauen hielt ihn nicht vom Reden ab) ergriff ich die Gelegenheit und fragte ihn nach seinem ungewöhnlichen Vornamen. Ich erwartete eine umfangreiche, geradezu abenteuerliche Geschichte. Meine Vermutung war eine literarische oder historische Verbindung der Eltern nach Wales, zumindest eine Vorliebe für Geschichten, in denen walisische Zauberer vorkamen –
Nichts dergleichen. Seine Mutter hätte einfach den Namen gern gemocht. Er schien fast irritiert von meiner plötzlichen offensiven Kommunikation, die durch seine unspektakuläre Antwort jedoch schnell wieder auf ein Minimum reduziert wurde.
Während er also sprach und aß und trank, nippte ich an meinem Bier (ich hatte ja nichts zu tun, außer interessiert zu schauen, ermutigend zu nicken und wach zu bleiben).
Da ich nichts vertrage, hielt sich das alkoholische Ausmaß glücklicherweise in Grenzen. Zwei kleine Bier für mich, drei große für ihn und das Essen (ich esse nicht gern vor Menschen, die ich nicht kenne).

Endlich: Der große Moment kam.
Ich war so dankbar.
Die Servicekraft unseres Bereichs wollte abrechnen, ihre Kollegin würde gleich übernehmen. Der perfekte Moment, die Szene neu zu gestalten. Eine Möglichkeit für ihn zu Punkten und sich männlich zu fühlen; eine perfekte Möglichkeit für mich, wach zu werden, das Gespräch zu drehen, infinite Möglichkeiten.

Sie kam, sah und fragte ihn, explizit, durch Augenkontakt unverkennbar: ihn, die große Frage: „Geht das getrennt oder zusammen?“
Große Männer sind schon an dieser Frage gescheitert. FeministInnen sind sich uneins. Ganze Gesellschaften stehen im Clinch, wegen dieser einen Frage. Das Problem sind nicht die monetären Mittel (meistens). Das Problem ist die Message. Die soziale Kodierung der Handlung. Verbunden mit Konventionen und Erwartungen. Eine große Sache also.
Verlässlich, wie sich mein Gegenüber bisher gezeigt hat, löste sich sein Blick von der jungen Dame und wandte sich an mich: „Was meinst du denn?“. Die selten seltsamste Art mit dieser Situation umzugehen.
Konventionell hätte er gezahlt. Nicht nur wegen der ganzen gentleman-illusion, er hat auch mehr konsumiert. Seine Hälfte der Rechnung war deutlich höher. Seine Frage jedoch hat absolut ausgeschlossen, dass dies eine valide Option wäre. Es blieben mir nur zwei Optionen, ohne eine Szene zu machen. Getrennt zahlen, oder ich zahle alles. Zweiteres wäre seltsam gewesen, nicht, weil ich eine Frau bin, sondern weil mein Konsum geringer war. Getrennt also. Umständliches Herauspulen von Kleingeld seinerseits (ich möchte an dieser Stelle betonen, dass der Mann in Lohn und Brot stand. Es geht mir nicht darum, mein Bier nicht zu zahlen, mehr seine Art, die Situation zu handlen, war irritierend). Mein Trinkgeld war höher als seines. In absoluten Zahlen und Prozentual. Lächerlich.
Gefühlt fünf lange stille Minuten schwiegen wir uns an, dann, fragte er, ob wir Spazierengehen wollten. Naja, wenigstens frische Luft, und vielleicht würde sich durch das wechselnde Umfeld die Interviewsituation legen.
Nach umständlicher Debatte über die Fahrradmitnahme seinerseits (er hat es nicht mitgenommen) ging es Richtung Innenstadt und meinem Stadtteil. Angeschackelt wie ich war, hielt ich es für eine grandiose Idee, ihn zu meiner Begleitung nach Hause zu nötigen und ihn dann heimzuschicken. Zumindest in die Nähe meiner Wohnung, meine genaue Adresse wollte ich nicht offenbaren, er hat auch nicht gefragt.
Das Vibe-Level lag im absolut negativen Bereich, das Bier hatte nicht geholfen. Ich hielt einen grundsätzlichen Sicherheitsabstand von mindestens geschätzten 60 cm und hielt meine sehr warmen Hände in meinen Jackentaschen versteckt. Bloß kein Risiko eingehen. Mein betrunkener Kopf ist da manchmal sehr analytisch. An einem Punkt meinte mein Date jedoch, ungezwungen Körperkontakt aufbauen zu wollen. Welch naive Tat. Abgelenkt von mir selbst und den bunten Lichtern der Stadt rechnete ich nicht mit einer Berührung meiner Schulter, zuckte zusammen und machte einen Satz von ihm weg. Totaler Abstand nun etwa 1,20 m. Verlegene Blicke, kontinuierliches Monologisieren von ihm. Wir waren mittlerweile beim Inhalt seiner Diplomarbeit angelangt. Gute Güte, für sowas bekommt man also einen Abschluß. Er schien kein Ende zu nehmen. Ich döste im Gehen weiter vor mich hin und blieb schließlich an der Bahnstation stehen, die noch irgendwie sinnvoll nah an meinem Wohnhaus lag (etwa 15 Gehminuten).
Worte können nicht beschreiben, wie dankbar ich war, dass er den Wink verstand. Der Abschied verlief ähnlich umständlich, wie es mit der Begrüßung begonnen hatte. Ich drehte mich um, zog meine Kopfhörer aus der Tasche und Schritt gen Heimat. Kein Wort von ihm, ob ich es weit hätte, wo ich hinmüsste (wir waren an einem Ort, an dem eindeutig niemand wohnt), oder ein floskeliges ‚Komm gut heim.‘. Nichts dergleichen.
Ich war gar nicht da für ihn.
Er hatte mir exakt zwei Fragen gestellt im Laufe des Abends. Wo wir sitzen, und wer zahlt.
Abgesehen von seiner Hand an meiner Schulter hat mich dieser Mensch nicht berührt. Er schien nett, etwas unsicher und mit einem etwas seltsamen Humor. Aber grundsätzlich rechtschaffend gut.
Er wird sein Gegenstück finden, da bin ich sicher. Meine Ohren sind jedoch nicht belastbar genug.
Und auch, wenn er wohl begeistert war von meiner entspannten Art zuzuhören, so hat er mich doch leider so gar nicht verzaubert.